Eva Boynton

Eva Boynton, Recruiting-Spezialistin bei Lime Technologies, reflektiert das Projekt des Reverse-Mentoring-Programms.

Ein Jahr ist vergangen, seit wir das Konzept des Reverse-Mentoring-Programms bei Lime Technologies eingeführt haben. Kurz gesagt bedeutete dieses Programm für uns, jedem Mitglied des Führungsteams über einen Zeitraum von sechs Monaten wiederkehrende Meetings mit einer neu eingestellten, weiblichen Mentorin zuzuweisen. Wir waren keineswegs die erste oder letzte Organisation, die auf diesen Zug aufgesprungen ist, aber für uns war es eine Premiere: Auf diese Weise haben wir zum ersten Mal eine Agenda, einen Rahmen und eine gemeinsame Plattform für Gespräche über Geschlechtergleichstellung und Inklusion am Arbeitsplatz geschaffen. Hinsichtlich solcher Dinge haben wir nämlich gelernt, dass die richtigen Bedingungen Teil der Nuss sind, die zu knacken ist: Sie stellen einen wichtigen ersten Schritt dar. Es ist durchaus möglich, Führungskräfte und Mitarbeiter zu ermutigen, Beobachtungen und Meinungen im Arbeitsalltag zu äußern, wenn aber der Raum nicht gegeben ist, muss man fast erwarten, dass auch die Motivation für vertrauliche Gespräche begrenzt sein wird. Aus diesem Grund haben wir uns von Volkswagen und anderen Unternehmen inspirieren lassen, Reverse-Mentoring-Programme einzuführen.

Inzwischen hatten wir mit großem Abstand Zeit, die erste Runde auszuwerten, und vor Beginn der zweiten Runde war das Interesse innerhalb unserer Organisation noch größer – ganz klar auf die Teilnahme an der Zukunft, aber vor allem auch eine lebendige Neugier auf die Erkenntnisse aus dem Gewesenen. Nun, was haben wir gelernt? Wozu hat es geführt? Was können wir tun?

Tatsächlich legen wir, wie viele andere Unternehmen auch, in unserer täglichen Arbeit großen Wert auf messbare Ziele. Dies hat dazu geführt, dass unser KPI-freier Ansatz für das Mentoring-Programm selbst uns ein wenig aus unserer Komfortzone getrieben hat. Die Umsetzung des Programms und seiner Aktivitäten an sich war schon ein Ziel, das wir gefeiert haben, uns aber bedingungslos mit “mal sehen was passiert” in der Zielbeschreibung auf ein solches Konzept einzulassen, hat dann aber doch den ein oder anderen in den Lime-Büros erst einmal tief durchatmen lassen.

Daher der vielleicht besonders offensichtliche Eifer, im Nachhinein zu fragen: Was haben wir gelernt? Meine Idee mit diesem Text ist eigentlich, die ewige Jagd nach Ergebnissen und Erkenntnissen zu wenden und stattdessen den dank des Programms entstandenen neuen Fragestellungen Tribut zu zollen. Denn vielleicht gerade dann, wenn wir beginnen, in Unerforschtes einzudringen und komplexe Problemstellungen einfach einmal sein zu lassen, haben wir die Chance, uns im Alltag immer wieder und aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit ihnen zu befassen. Einige Diskussionspunkte anzureißen und nach sechs Monaten in schönen Schlussfolgerungen zusammenzufassen, mag auf dem Papier zwar gut aussehen, war aber nie unsere Idee mit dem Mentorenprogramm. Versuchen wir daher, nichts zu beantworten oder zu lösen, sondern stattdessen einfach nur zu sehen und zu bestätigen, was wir erreicht haben, da wir es eigentlich nicht erreicht haben. Noch nicht zumindest.

1. Wie gehen wir mit Konsens um?

Wenn wir Mentoren und Trainees den Auswertungsbogen beantworten und frei über ihre Erfahrungen mit dem Programm schreiben lassen, scheinen sich alle Beteiligten darin einig zu sein, dass es in den Gesprächen zwischen ihnen keine direkten Meinungsverschiedenheiten gab. Unterschiedliche Perspektiven, absolut, aber letztendlich Konsens über Werte und Prioritäten für die Zukunft. Auf der einen Seite freuen wir uns natürlich gern über die berührende Weisheit und Begegnungsbereitschaft innerhalb unseres Unternehmens, auf die diese Antworten schließen lassen, sowie die Tatsache, dass wir offensichtlich eine Organisation sind, die Kultur und Werte über Generationen- und Rollengrenzen hinweg teilt. Andererseits, ist es wirklich so einfach? Eine kritischere Analyse würde argumentieren, dass es eher darum geht, es nicht zu wagen, etwas infrage zu stellen und dass wir von unserer Angst um Rücksichtnahme und gute Laune behindert werden. Wir sollten auch nicht die Augen davor verschließen, welche Machtverhältnisse in den Beziehungen Unternehmensleitung/neuer Mitarbeiter, Frau/Mann, Junior/Senior usw. indirekt immer vorhanden sind und wie sich diese möglicherweise auf die Gespräche auswirken. Natürlich haben wir versucht, das Problem zu umgehen, indem wir Mentoren und Trainees zusammenbringen, die normalerweise nicht zusammenarbeiten, aber wir wissen nicht wirklich, ob dies ausreicht. Die Frage, die wir uns weiterhin stellen müssen, lautet also, wie wir Konsens interpretieren und ob er etwas ist, das wir anstreben oder eher davon abkommen sollten?

2. Wie machen wir das Unsichtbare sichtbar?

Eine unserer Hoffnungen mit dem Reverse-Mentoring-Programm besteht darin, dass Beziehungen und Gespräche zwischen Abteilungen und Rollen, die sich normalerweise nicht treffen, tote Winkel aufdecken können. Wir alle bekommen schnell einen Tunnelblick, ganz einfach. Allein der Vergleich der Demografie zwischen verschiedenen Teams kann zu Denkanstößen führen. Ein interessanter Ansatz, den einige Trainees verfolgten, bestand darin, ihren Mentor einen Tag lang zu begleiten, d. h. Situationen, Behandlungen und Beziehungen durch die Augen der Jüngeren zu erleben und mitzuverfolgen. Viele antworten, dass dies einer der lohnendsten Tage während des gesamten Programms war. Es unterstreicht die Überlegungen, wie wir das Unsichtbare auch in unseren eigenen Teams im Alltag besser sehen können.

In der überwiegenden Mehrheit der Mitarbeiterbefragungen, die wir im Laufe der Jahre durchgeführt haben, hat niemand angegeben, Diskriminierung am Arbeitsplatz an sich selbst oder anderen erlebt zu haben. Dennoch müssen wir uns stets darüber im Klaren sein, dass keine Organisation vollständig vor eingefahrenen Strukturen geschützt ist. Diese können schwer zu erkennen sein, schaffen aber dennoch Schwellen und begrenzende Normen. Ein generelles Beispiel hierfür ist, dass es für die meisten Menschen heutzutage ganz selbstverständlich ist davon auszugehen, dass Frauen über mindestens gleichwertig gute technische Fähigkeiten verfügen wie jeder andere Mensch, mit Geschlechterzugehörigkeit hat eine Begabung in diesem Bereich selbstverständlich nichts zu tun. Studien deuten dennoch darauf hin, dass sich Männer bei technischen Problemen spontan eher an andere Männer wenden. Und wir müssen davon ausgehen, dass diese und ähnliche Verhaltensweisen auch bei uns auf allen Ebenen vorkommen. Es ist menschlich, reflexartig zu handeln, weshalb es auch äußerst schwer zu erkennen ist, was wir im täglichen Leben tun, was zur Ausgrenzung führt. Wir müssen daher darüber nachdenken, wie wir die Schlüssel finden, um sichtbar zu machen, was wir derzeit nicht sehen.

3. Wozu führt ein Reverse-Mentoring-Programm?

Genau dies ist die 1-Millionen-Euro-Frage, um an die Einleitung zu knüpfen. Wozu führt unsere Investition in das Reverse-Mentoring-Programm? Wozu wollen wir, dass sie führt? Wie bereits erwähnt haben wir uns bei der Einführung des Programms nicht an quantifizierbaren Zielen orientiert und darüber hinaus Mentoren und Trainees weitgehend selbst bestimmen lassen, worüber sie in welcher Form sprechen wollen. Ein sehr interessantes Phänomen, das wir beobachtet haben, ist, dass die internen Beförderungen im selben Jahr zugenommen haben, in dem wir mit dem Reverse Mentoring begannen. Ob dies Zufall oder Resultat ist, sei dahingestellt, und schon gar nicht etwas, das wir im Vorfeld als mögliches Ergebnis formuliert hatten. Andererseits ist es nicht ganz abwegig, sich vorzustellen, dass diese Art der Beziehung innerhalb der Organisation sowohl zu einer gesteigerten Motivation als auch zu einem besseren Selbstbewusstsein jenes neuen Mitarbeiters führen kann, der sich bereits frühzeitig in seiner Karriere gesehen und gehört fühlt. Das Gefühl, von Bedeutung zu sein, ist schließlich für viele von uns eine treibende Kraft und Teil unseres Gedeihens und Aufblühens. Weitere positive Stimmen, die bisher zu hören waren, sind, betreffen das Thema Inklusion, das anders als bisher mit größerer Legitimität und Dringlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Wir sind alle gespannt, was das in Zukunft bringen wird, und wichtig ist, dass wir uns bei der weiteren Arbeit und den neuen Runden des Programms von Neugier und Offenheit leiten lassen. Natürlich handeln wir gerne, wenn es um konkretes Feedback geht, aber bis dahin glaube ich an die Faktoren Beobachten, Zuhören und Unterstützen, während wir Beziehungen entstehen und Schwellen sinken lassen. Und genau das ist ziemlich aufregend.

Gleichberechtigung und Diversität ist eine Frage der Nachhaltigkeit

Der Nachschub an Fachkräften ist nicht nur bei Lime Technologies, sondern für die gesamte Technologiebranche ein zentrales Thema. Prognosen von IT- und Telekommunikationsunternehmen zeigen, dass bis 2022 in Schweden mehr als 70.000 Menschen mit IT- oder digitalen Fähigkeiten fehlen werden. Heute besteht die Geschlechterverteilung in der Tech-Branche aus etwa 70 % Männern und 30 % Frauen. Die Frage nach mehr Gleichstellung ist also viel mehr als idealistisch, sie ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung und das Wachstum der Branche: Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, Fähigkeiten ungenutzt an uns vorbeiziehen zu lassen.

2019 haben wir bei Lime Technologies ein Reverse-Mentoring-Programm gestartet, bei dem allen Mitgliedern der Unternehmensleitung eine neu eingestellte Mitarbeiterin als Mentorin zugewiesen wurde. Die erste Programmrunde lief über sechs Monate und im Jahr 2020 startete die zweite Runde, die derzeit noch läuft und bei der wir uns des Weiteren auch dafür entschieden haben, die Konstellationen für mehr Perspektiven und Fokus auf Diversität zu erweitern.

Zusammenfassend ist vielleicht erwähnenswert, dass Reverse Mentoring, das wir in seinem Ansatz explorativ zulassen, nur eine von vielen Möglichkeiten ist, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Parallel dazu haben wir eine Reihe weiterer erklärter Ziele: Unter anderem arbeiten wir aktiv daran, sowohl weibliche als auch männliche Kandidaten in alle unsere Rekrutierungsprozesse einzubeziehen. Im Jahr 2020 waren 53 % unserer Neueinstellungen Frauen.

Lesen Sie mehr über Limes Engagement und Aktivitäten für einen gerechteren Arbeitsplatz in unserem Nachhaltigkeitsbericht: Nachhaltigkeitsbericht: Nachhaltigkeitsbericht.

 

Eva Boynton
Recruiting-Spezialistin Lime Technologies
Arbeitet aktiv daran, die Werte von Lime im Rekrutierungsprozess weiterzuentwickeln, zu optimieren und zu integrieren.